AW: Ein Anwalt und seine Sicht der Dinge
Ihre Lösung wäre demnach, dass nicht nur das verboten ist, was ausdrücklich verboten ist, sondern dass auch das verboten ist, was zwar nicht ausdrücklich verboten ist, sondern dem jeweiligen Richter gerade nicht so passt? Wie Grenzen Sie das von der Willkür ab?
Diese Auffassung von Recht ist in gewisser Weise symptomatisch für den Berufsstand der deutschen Justiz.
Es ist doch in einem Rechtssystem gar nicht möglich, Regeln für alles und jedes aufzustellen.
Denn dann käme man in eine sogenannte "Kasuistik". Das wäre ein Rechtssystem, in dem bald schon alles geregelt wird, angefangen von der zulässigen Menge an pro Ausscheidungsvorgang benutztem Toillettenpapier bis hin zum zulässigen Leergewicht eines Aktenordners.
Die Frage ist immer, wie man in einer Angelegenheit entscheidet, wo es keine explizite Regelung und kein Präzedenzurteil gibt.
Solche Fälle treten doch auch im Rechtsalltag immer wieder auf.
Und es zeugt von einer fatalen Kurzsicht, hier von "Willkür" zu sprechen, wenn ein Richter in einem solchen Fall der Rechtsauslegung z.B. nach dem "Geist des Gesetzes", nach ethischen oder sonstigen Prinzipien urteilt.
Grundsätzlich steckt in jedem Paragraphen (auch z.B. im BGB) mehr oder weniger Auslegungsspielraum.
Nur ein Beispiel: was ist z.B. "sittenwidrig"? Mit dieser Frage befassen sich unzählige Kommentare, Aufsätze, aber auch Grundsatzurteile.
Diese Frage lässt sich aber nicht immer anhand von Aufsätzen oder Kommentaren/Urteilen eindeutig beantworten. Man kommt auch bei solchen Erörterungen sehr schnell in Fragen der Rechtsphilosophie, wenn man z.B. fragt: was ist "sittenkonform" gemäß allgemeiner "Verkehrsauffassungen"?
Hier wird es z.T. sehr schwierig. Man erkennt hier aber, dass
jedem Rechtssystem, auch dem deutschen, z.B. eine bestimmte Rechtsphilosophie zugrundeliegt. Diese Rechtsphilosophie begründet sich aus allgemeinen Erwägungen phisosophischer, aber auch religiös tradierter ethischer Standards, aber auch aus dem sogenannten "Naturrecht", und auch auf den Grundsätzen des Völkerrechts. Diese Standards haben auch eine gewisse Entwicklung durchgemacht.
Ganz gefährlich wird es aber dann, wenn man anfängt, es zu unterlassen, solche Überlegungen bezüglich ethischer Standards des Rechts (weil sie kompliziert und anstrengend sind etc....) überhaupt noch anzustellen, und wenn man dann in eine Kasuistik abgleitet. Das passiert aber dann, wenn man meint, dass alles das, was nicht z.B. im StGB/BGB/UWG oder im Palandt oder vom BGH "verboten" wurde, grundsätzlich zuerst mal zulässig ist. Diese Annahme ist aber falsch und auch gefährlich.
Bis vor 4 Jahren war es im deutschen Anwaltsrecht vielleicht auch noch nicht notwendig gewesen, sich mit der Frage zu beschäftigen, was einem Anwalt bezüglich der Beitreibung von Forderungen erlaubt sein darf.
Bis vor 4 Jahren hat sich diese Frage in Deutschland gar nicht gestellt. Denn bis dahin gab es die Nutzlos-Branche noch nicht, und es gab lange Zeit auch keine Anwälte, die es für opportun hielten, die Grauzone des Anwaltsrechts bezüglich der Beitreibung solcher Forderungen auszuloten. Bis dahin ist überhaupt niemand überhaupt auf so eine Idee gekommen. Weil bis vor einiger Zeit noch auch für den Bereich der Anwaltsbranche gewisse Mindeststandards gegolten haben, die selbst die skrupellosen Vertreter der Branche davor zurückschrecken ließen, mit derart schleimigen "Unternehmen" Geschäfte zu machen.
Diese Mindeststandards scheinen sich nun auch bei den Anwälten Zug um Zug in Auflösung zu befinden. "Erlaubt ist, was gefällt, und was nicht direkt verboten ist." - "Man darf sich nur nicht erwischen lassen." - "Pecunia non olet."
Das sind die Wahlsprüche der Zeit.
Bis vor einiger Zeit hätte sich ein Anwalt in Grund und Boden geschämt, nötigende Briefe an rechtsunkundige "Schuldner" aufzusetzen, für Forderungen, von deren Fragwürdigkeit er Kenntnis hat. Heutzutage ist sowas selbst für Jurastudenten offenbar kein Grund mehr, sich für solche "Kollegen" schämen zu müssen. Moralisch-ethische Standards gelten nicht mehr. Wenn´s im Palandt nicht steht - was solls? Who cares?
Wer sich verarschen lässt, ist eben "...selbst schuld...".
Vor 30 Jahren wäre ein Nutzlosanbieter wie "Opendownload" etc. von deutschen Anwälten achtkantig aus der Kanzlei gejagt worden. Und er hätte sich dabei ducken müssen, weil ihm sonst das BGB noch an den Kopf geschmissen worden wäre. Aber Heute sind sie hochwillkommene Mandanten und werden wahrscheinlich von der Tippse mit Kaffee und Schokokeksen bewirtet.
Times are changing.
Wenn aber diese Mindeststandards aufweichen, dann kommen wir eben zwangsläufig in eine Kasuistik. Wenn deutsche Anwälte jedwede moralische Standards nicht mehr gelten lassen, und wenn sie nicht mehr fähig sind, ihr eigenes Anwaltsrecht vielleicht auch einmal dahingehend auszuloten, was diesbezüglich erlaubt sein darf, dann haben sie kapituliert. Dann braucht es eben genau beschriebene Regulierungen, was sie dürfen, und was nicht.
Regulierungen, wie sie z.B. das Inkassorecht in den USA und in UK bieten.
Bisher gab es vielleicht noch keinen Anlass, im Anwaltsrecht oder im alten RBerG solche Mindeststandards zum Inkassorecht festzuschreiben.
Wenn es in Deutschland die Anwaltsverbände und die Rechtsanwaltskammern nicht mehr fertigbringen, gegen Lumpensäcke in ihren eigenen Reihen
zur Not auch mal darüber ein Grundsatzurteil vor dem BGH zu erstreiten, was im anwaltlichen Forderungsrecht Mindeststandard zu sein hat, und was sich dann bestimmt auch in den Kommentaren von Seitz bis zu Palandt so niederschlagen würde, dann haben sie vor ihren eigenen unseriösen Kollegen kapituliert.
Dann brauchen wir neue Regelungen im RDG und im Anwaltsrecht.
Aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Weil derselbe moralisch impotente und korrumpierte Berufsstand eben solche Regelungen erst einmal auf den Weg bringen müsste. Und weil derselbe Berufsstand für sich selbst eben möglichst keine Regulierungen setzt und immer wieder "kreative Gestaltungsfreiheit" einfordert.