AW: Telefonbetrug in Deutschland: Das geduldete Verbrechen
Bundesnetzagentur will mehr Ermittlungsbefugnisse bei Telefonbetrug - Yahoo! Finanzen
Matthias Kurth, das oberste Wattestäbchen, fordert "mehr Ermittlungsbefugnisse" für seine Behörde (an und für sich eine gute Forderung, sofern Personal und Kompetenz sich seitens der Behörde mit entsprechender Motivation kombinieren. Ostern. Weihnachten. Sommerferienbeginn. An einem Tag. EOT.)
Eine "zügige und deutliche Erhöhung" des Bußgeldrahmens auf 500.000 Euro in jedem einzelnen Fall hätte "abschreckende Wirkung", sagte Kurth
Ach ja? Wenn es, wie im Artikel steht, um
zweistellige Millionenbeträge geht, dann sind 500.000 Euro, wie Kurth meint, abschreckend. Klaro. Genauso abschreckend, wie Bewährungsstrafen und Geldstrafen unterhalb des Profits bei Dialerbetrug. Aber sicher. Geldstrafen müssen
strafend sein, jede Begrenzung ist Unsinn, denn wenn die Geldstrafe lediglich ein "Kalkulationsfaktor" ist, der Betrugserlöse verringert, schreckt es
organisierte Kriminelle nicht wirkungsvoll ab. [Das schrieb übrigens der von einem Dialer geneppte international angesehene Geldwäsche- und Wirtschaftskriminalitätsexperte Jeffrey Robinson bereits 2004]
(genausowenig wie "Rechnungslegungs- und Inkassoverbote", deren faktische Umsetzung
niemals überprüft wurde und bezweifelt werden muß - dieses Thema vertiefe ich hier aber nicht schon wieder)
"Von August 2009 bis August 2010 hätten sich mehr als 200.000 Bürger an die Netzagentur gewandt."
Es mag schon sein, dass die Beschwerdezahl gestiegen ist, dennoch handelt es sich bei Telefonbetrug nicht um ein neues Phänomen. Wo waren entsprechende Aussagen des Herrn Kurth in den letzten Jahren? Wie kann es sein, dass zwischen 2004 und 2009 ausschließlich Selbstbeweihräucherung und realitätsferne Erfolgsmeldungen veröffentlicht wurden?
Bereits vor über drei Jahren schrieb ich in diesem Forum:
Die Lage schönen ist in meinen Augen faktisch fast schon "strukturelle Mitstörung".
Quelle
Belege für diesen Vorwurf haben sich in den darauf folgenden Jahren in Massen ergeben... Die eklatante Differenz zwischen der in den Medien dargestellten "Durchschlagskraft" der BnetzA und der Realität erreichte fast das Niveau der Falschinformation - und das hatte Folgen, die dieser Politik der Schönrederei anzulasten sind.
Die "neuen Töne" des Matthias Kurth sind daher einerseits eine Notwendigkeit,
andererseits aber auch Heuchelei.
"Die deutsche Justiz greift dem Bericht zufolge inzwischen härter durch. (...) Die Staatsanwaltschaft werfe dem Angeklagten schweren Betrug vor. Die Firmen hätten ... insgesamt etwa sechs Millionen Euro widerrechtlich abgebucht. Der Geschäftsmann sei geständig, er müsse laut Justizkreisen mit mehreren Jahren Gefängnis rechnen."
Wirklich?
Hamburg, 2005: Prozess wegen Dialerbetrugs, Schadenssumme knapp 5 Mio --> 2 Jahre auf Bewährung und Geldstrafe unterhalb der Betrugssumme
München, 2008: Ermittlungsgruppe "Glücksmillion" - gab es überhaupt jemals eine Anklage???
Offenburg, 2009: 25 Mio Euro Schadenssumme, Bewährungsstrafe und Geldstrafe
Baden Online - Portal der Ortenau
"[FONT=Arial, Helvetica, Sans Serif]
Mehrzahl der Anklagepunkte gegen Geständnis und hohe Geldauflage eingestellt"
[/FONT]"weil die Angeklagten möglicherweise nicht davon ausgehen konnten, dass ihr Handeln Betrug ist«, erklärte das Gericht. Schmeiser erinnerte daran,
dass vor November 2002 einige ähnlich gelagerte Fälle eingestellt worden sind."
Müssen die Betrüger also wirklich mit empfindlichen Strafen rechnen oder lehrt die Erfahrung nicht eher, dass sie milde davonkommen, entsprechend der deutschen Justiztradition im Umgang mit komplizierten Betrugsfällen?
Wir werden genau darauf achten...
In der Süddeutschen steht übrigens wieder ein ausführlicher Beitrag des Herrn K.O., "Bei Anruf Betrug". Unter diesem Titel hatte die SZ bereits im Juni 2009 einen Artikel:
Telefonabzocke - Bei Anruf Betrug - Geld - sueddeutsche.de
Bei einem Umzug kommt so manches zu Tage. Was allerdings Wolfgang K. beim Ausmisten der Wohnung seines behinderten Sohnes entdeckte, versetzte dem 79-Jährigen einen Schlag: Über mehrere Jahre hatten dubiose Gewinnspielfirmen seinem Sohn Geld vom Konto abgebucht.
Das Phänomen ist also bereits seit Jahren bekannt. Wenn man dies mit der obigen Aussage aus Offenburg kombiniert, dass bereits
vor 2002 Ermittlungsverfahren eingesetllt wurden, ergibt sich ein Bild der Realität:
Untätigkeit von Justiz und Behörden seit mindestens einem Jahrzehnt!!!
Eine Münchner Ermittlungsgruppe "Glücksmillion" ermittelte ja auch gegen eine ähnliche Bande, die Überschneidungen im Täterkreis sind für jeden nachlesbar, der Google bedienen kann:
http://www.antispam-ev.de/forum/sho...%F6nix-88-Dialog-Tipp-Eurovox-Gl%FCcksmillion
Die Staatsanwaltschaft München I führt unter dem Az.: 311 Js 31344/06 ein Verfahren wegen des Verdachts des Betruges
Was ist daraus geworden? Gab es abschreckende Strafen? Warum erlaubte man diesen Leuten jahrelang, einfach weiter zu machen? Wo sind die Fragen des Herrn Ott von der Süddeutschen an die StA München???
Flammkuchenconnection, "Wiener Karussell", "Heppenheimer Sumpf", warum schauten Bundesnetzagentur und Staatsanwaltschaften jahrelang zu (oder sollte man sogar sagen, dass sie diese Form organisierter Kriminalität "begleitend regulierten"?)
SZ schrieb:
Massenweiser Betrug per Telefon kommt vor allem in zwei Formen vor (...)
Variante zwei des Massenbetrugs, die in einem umfangreichen Verfahren von der StA Mannheim verfolgt wird: Einer Vielzahl von Leuten wird ... mitgeteilt, sie ... müssten sich nun unter einer bestimmten Telefonnummer melden, um ihre Preise zu bekommen
Das ist seit 2002 Thema in Deutschland. Was ist eigentlich aus den Ermittlungen der StA Düsseldorf aus 2005 gegen die
"Düsseldorf Connection" geworden? Wo sind die abschreckenden Strafen? Damals gab es Berge von Hinweisen auf eine international agierende "Telefonmafia" und die StA Düsseldorf hatte das auch so formuliert (ich finde leider den Link nicht mehr).
Damals hat die Bundesnetzagentur übrigens nicht einmal mehr Maßnahmen ergriffen gegen den Mißbrauch von 0190-Nummern durch die international agierenden Banden mit der unfassbaren Begründung, "0190-Nummern werden ohnehin bald durch 0900 ersetzt, sodass keine Maßnahmen mehr erforderlich sind" (edit:
link)
Was nützt eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft, wenn der politische Wille fehlt, die Verbraucher wirksam zu schützen und wenn Oberstaatsanwälte wie in Celle
mit großer Arroganz die Arbeit verweigern, weil "die Betroffenen selbst schuld" sind?
Man könnte heute noch reagieren und die Ermittlungen wegen Telefonbetrugs dem BKA übergeben, weil es sich um organisierte Kriminalität handelt.
Die offizielle OK-Definition (Gemeinsame Arbeitsgruppe Justiz/Polizei, 1990/RiStBV 1991)
Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig
a)unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen,
b)unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder
c)unter Einflußnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft
zusammenwirken.
Der Begriff umfaßt nicht Straftaten des Terrorismus.
Die Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität sind vielgestaltig. Neben strukturierten, hierarchisch aufgebauten Organisationsformen (häufig zusätzlich abgestützt durch ethnische Solidarität, Sprache, Sitten, sozialen und familiären Hintergrund) finden sich - auf der Basis eines Systems persönlicher und geschäftlicher kriminell nutzbarer Verbindungen - Straftäterverflechtungen mit unterschiedlichem Bindungsgrad der Personen untereinander, deren konkrete Ausformung durch die jeweiligen kriminellen Interessen bestimmt wird.
Organisierte Kriminalitt: Definitionen
Wo ist diese Forderung bei Matthias Kurth?
Gerade auch wegen der internationalen Querverbindungen wäre es ein längst fälliger Schritt, Telefonbetrug als "organisierte Kriminalität" zu bezeichnen - und zwar ganz formal, damit die Ermittlungen da geführt werden, wo man solche Ermittlungen führen kann: Beim BKA. Zentral.
Aber es macht sich besser, von irgendwelchen Forderungen in der Zukunft zu reden. Sonst kriegt mancher schlecht bezahlte Ex-Postler beim nächsten Branchentreffen am Ende keinen Schampus mehr zum Kaviar-Frühstück.