Bundesverfassungsgericht zur unentgeltlichen Rechtsberatung

galdikas

Gesperrt
Bekanntlich wurde den Betreibern von Computerbetrug.de eine Klage angedroht:

Heiko schrieb:
28.5.2004

Der Rechtsanwalt und Geschäftsführer der Dialer-Firma Global Netcom, Bernhard Syndikus (...) geht derzeit per Abmahnung gegen das Forum der Internetportale Computerbetrug.de und Dialerschutz.de vor. Er behauptet, dass in dem beliebten Diskussionsforum „permanent Verstöße gegen das Rechtsberatungsgesetz“ stattfänden und fordert deshalb eine strafbewehrte Unterlassungserklärung. "
http://forum.computerbetrug.de/viewtopic.php?t=5673

Der Gesetzgeber schrieb:
§ 1 Absatz 1 RBerG:
Die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten, einschließlich der Rechtsberatung und der Einziehung fremder oder zu Einziehungszwecken abgetretener Forderungen, darf geschäftsmäßig - ohne Unterschied zwischen haupt- und nebenberuflicher oder entgeltlicher und unentgeltlicher Tätigkeit - nur von Personen betrieben werden, denen dazu von der zuständigen Behörde die Erlaubnis erteilt ist.

Das Bundesverfassungsgericht hatte nun zu entscheiden, ob eine Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz aufgrund einer "geschäftsmäßigen Rechtsbesorgung" zu Recht erfolgt war.

"Beschluß vom 29. Juli 2004

Was geschäftsmäßige Rechtsberatung im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes ist, bedarf angesichts der generalklauselartigen Umschreibung der Abklärung im Einzelfall, die einerseits die durch das Gesetz geschützten Belange und andererseits die Freiheitsrechte des Einzelnen berücksichtigt und dabei auch den Veränderungen der Lebenswirklichkeit Rechnung trägt. Alle diese Gesichtspunkte sind bei der Gesetzesauslegung und der Rechtsanwendung zum Ausgleich zu bringen (vgl.BVerfGE 97, 12 <28> , zu Art. 12 GG). Dabei haben die Gerichte bei der Auslegung auch zu berücksichtigen, dass dieses Gesetz – wie andere Gesetze auch – einem Alterungsprozess unterworfen ist. Das Rechtsberatungsgesetz steht in einem Umfeld sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen, mit deren Wandel sich auch der Norminhalt ändern kann. Die Gerichte haben vor diesem Hintergrund zu prüfen, ob das Gesetz für alle Fälle, auf die seine Regelung abzielt, eine gerechte Lösung bereithält. Sie sind daher befugt und verpflichtet zu prüfen, was unter den veränderten Umständen "Recht" im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG ist (vgl.BVerfGE 82, 6 <12> ). Dabei haben sie unter Anwendung der allgemein anerkannten Auslegungsmethoden – zu denen auch die teleologische Reduktion gehört (vgl.BVerfGE 35, 263 <279>; 88, 145 <166 f.> ) - zu prüfen, ob die gesetzliche Regelung zwischenzeitlich lückenhaft geworden ist. Am Wortlaut einer Norm braucht der Richter dabei nicht Halt zu machen. Seine Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG) bedeutet nicht Bindung an dessen Buchstaben mit dem Zwang zur wörtlichen Auslegung, sondern Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes. Sind mehrere Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht (vgl.BVerfGE 8, 210 <220 f.>).

(...)

Die Gerichte haben in diesem Zusammenhang im Rahmen der Auslegung und Anwendung der Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 1 RBerG auch nicht geprüft, ob in der Zwischenzeit eine Veränderung der Lebenswirklichkeit eingetreten ist, die das Rechtsberatungsgesetz ergänzungsbedürftig und zugleich ergänzungsfähig hat werden lassen (vgl.BVerfGE 97, 12 <28> ). Nicht in Erwägung gezogen wurde, ob der Wortlaut des Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 1 RBerG im konkreten Fall nicht über den Sinn und Zweck des Gesetzes hinausgeht, so dass von Verfassungs wegen eine einschränkende Auslegung geboten ist.
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/frames/rk20040729_1bvr073700

Die Anwendung dieser Grundsätze dürfte es daher als wenig wahrscheinlich erscheinen lassen, daß ein Gericht es als mit dem Sinn und Zweck des Rechtsberatungsgesetzes ( - Das Rechtsberatungsgesetz dient dem Schutz des Rechtsuchenden sowie der geordneten Rechtspflege - ) für vereinbar ansehen könnte, das wiederholte Posten von Beiträgen in öffentlichen Internetforen wie unter forum.computerbetrug.de, in denen auf konkrete Rechtsfragen Dritter eingegangen wird, als eine einer behördlichen Erlaubnis bedürftige, geschäftsmäßige Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten erachten könnte.

gal.
 
[vertrackte Ironie an]
Schon 2002 scheiterte der Versuch, mit Hilfe des Rechtsberatungsgesetzes gegen
Rechtsberatung vorzugehen, gewonnen hat damals...

... infogenie
grüsse
[vertrackte ironie aus]
 
Man kann auch noch anderes aus dem Beschluss saugen:

BVerfG schrieb:
Die Gerichte haben im vorliegenden Fall bei der Auslegung und Anwendung des Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 1 und des Art. 1 § 8 Abs. 1 Nr. 1 RBerG nicht in Erwägung gezogen, ob der Begriff der "Geschäftsmäßigkeit" unter Berücksichtigung der durch das Rechtsberatungsgesetz geschützten Interessen und des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen im konkreten Fall eine Auslegung erfordert, die die unentgeltliche Rechtsbesorgung durch einen berufserfahrenen Juristen nicht erfasst. (...)
Die juristische Qualifikation sowie die Berufserfahrung des Beschwerdeführers hätten jedoch Anlass für eine solche Prüfung und für eine Abwägung zwischen den Schutzzwecken des Rechtsberatungsgesetzes und dem Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG gegeben.

Nun, wir wissen nicht, zu welchem Prüfungsergebnis das wieder betroffene Amtsgericht zu diesen Fragen kommen wird.

Aber eines ist sicherlich festzustellen: Eine "unerlaubte Rechtsberatung" durch Rechtsgeschulte (Volljuristen) kann nicht ohne Weiteres postuliert werden, da solche Personen ein Recht zur freien Entfaltung Ihrer Persönlichkeit haben, welches ggf. in erheblichem Maße mit dem Zweck des RBerG kollidiert.

Womit sich zumindest die Volljuristen, sofern sie hier Stellungnahmen abgeben, auf nicht mehr ganz dünnem Eis bewegen dürften. :cool:
 
KatzenHai schrieb:
Man kann auch noch anderes aus dem Beschluss saugen:
Ich - juristischer Laie - finde vor allem folgende Feststellung bemerkenswert:

das BVerfG schrieb:
Dabei haben die Gerichte bei der Auslegung auch zu berücksichtigen, dass dieses Gesetz – wie andere Gesetze auch – einem Alterungsprozess unterworfen ist. Das Rechtsberatungsgesetz steht in einem Umfeld sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen, mit deren Wandel sich auch der Norminhalt ändern kann.
Praktisch sämtliche Gesetze werden so doch sinngemäß mit einem "Verfallsdatum" versehen. Dass sich innerhalb weniger Jahre - und gewiß in Jahrzehnten - die sozialen Verhältnisse und gesellschaftspolitischen Anschauungen massiv ändern, kann wohl unter allen Umständen unterstellt werden. Demnach wären ggf. tausenden von Gesetzen regelmäßig zu überprüfen.

M. Boettcher
 
drboe schrieb:
Dass sich innerhalb weniger Jahre - und gewiß in Jahrzehnten - die sozialen Verhältnisse und gesellschaftspolitischen Anschauungen massiv ändern, kann wohl unter allen Umständen unterstellt werden. Demnach wären ggf. tausenden von Gesetzen regelmäßig zu überprüfen.

Stimmt. Und genau das wird vom Gesetzgeber, dem BVerfG und den Gerichten auch genau so tagtäglich gemacht.

Das RBerG ist nur einfach nicht wichtig und "dringend" genug, um bislang ausufernd derart bearbeitet worden zu sein. Aber das soll sich ja ohnehin bald ändern ...
 
KatzenHai schrieb:
drboe schrieb:
Dass sich innerhalb weniger Jahre - und gewiß in Jahrzehnten - die sozialen Verhältnisse und gesellschaftspolitischen Anschauungen massiv ändern, kann wohl unter allen Umständen unterstellt werden. Demnach wären ggf. tausenden von Gesetzen regelmäßig zu überprüfen.

Stimmt. Und genau das wird vom Gesetzgeber, dem BVerfG und den Gerichten auch genau so tagtäglich gemacht.
Ah, geh! Die Wirklichkeit sieht schon ein wenig anders aus. Richter und Gerichte orientieren sich vor allem am "Mainstream", vorhandenen Kommentaren, Musterurteilen, höheren Instanzen usw. Das ist einerseits dem Konformitätsdruck geschuldet, Querdenkern wird auch in Justizkreisen die Karriere erschwert, andererseits auch der Fülle von Prozessen, die Standardisierung und schematische Entscheidungen nahelegt, will man nicht arbeitsmäßig ersticken. Ein Amtsrichter hat statistisch so ca. 750 Fälle pro Jahr zu entscheiden, in einigen Großstädten sind es deutlich mehr. Da ist die Neigung, sich den Job zu erleichtern, schon ausgeprägt. Und die Materie wird ja nicht einfacher, denn seitens des Gesetzgebers kommen vor allem Gesetze hinzu. Änderungen, heute als "Reform" ja schon in Verruf geraten, tragen zur Klärung und Erleichterung meist nicht bei. Wie auch, angesichts von Überregulierung. Angeblich sollen in Deutschland an die 100.000 Gesetze und Verordnungen das Leben regeln. EU Recht nicht einmal eingeschlossen. Dieser Gesetzes-Dschungel müßte eigentlich richtig entrümpelt werden. Lippenbekentnisse dazu sind seit Jahren schwer in Mode; pasieren tut eigentlich nichts, im Gegenteil.

Das RBerG ist nur einfach nicht wichtig und "dringend" genug, um bislang ausufernd derart bearbeitet worden zu sein. Aber das soll sich ja ohnehin bald ändern ...
Naja, wenn die Halbwertszeit solcher Gesetze, immerhin mit unrühmlicher Historie und schon von daher eher im Blick als andere, so lang ist, dann erledigt sich die Behauptung, es würde tagtäglich überprüft, für alle übrigen Gesetze eigentlich von selbst. Dazu kommt, dass man öfters das BVerfG instrumentalisiert, der Gesetzgeber also vor seinen eigentlichen Aufgaben paßt. Und zwingt das Gericht den Gesetzgeber einmal zum Handeln, schiebt der das so lang als möglich auf die lange Bank.

M. Boettcher
 
Ich denke übrigens schon, daß dieses Urteil de facto das Ende der "exzessiven Auslegung" des RBerG bedeutet, gegen die der Beschwerdeführer angegangen war. Auch wenn das Gericht es etwas verwunden formuliert, ist der Sinn doch klipp und klar: "Am Wortlaut einer Norm braucht der Richter dabei nicht Halt zu machen. Seine Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG) bedeutet nicht Bindung an dessen Buchstaben mit dem Zwang zur wörtlichen Auslegung, sondern Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes. Sind mehrere Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht".

Es geht um die Auslegung des Begriffs "geschäftsmäßige Besorgung fremder Rechtsgeschäfte". Der vorliegende Einzelfall (und ähnliche vom Beschwerdeführer aufgeführte) betraf die tatsächliche Besorgung von Rechtsgeschäften (z.B. durch Auftreten vor Gericht). Diejenigen Ratschläge, die hier im Forum erteilt werden - und zwar auch wenn sie ganz konkrete Rechtsfragen und fallbezogene Vorschläge beinhalten - bleiben prinzipiell hinter solcher "Besorgung" zurück. Selbst eine detaillierte "Rechtsberatung" muß der Fragende noch selbst für den eigenen Fall umsetzen. A fortiori fallen sie daher nicht unter den Erlaubnisvorbehalt des RBerG.

Dies übrigens auch deswegen, da es sich erkennbar um unverbindliche Meinungsäußerungen handelt, die in keiner Weise beanspruchen (oder auch nur beanspruchen könnten), die anwaltliche Rechtsberatung zu ersetzen (und deren Schutz - für beide Seiten - ist ja der Sinn des Gesetzes). Auch dies ein entscheidender Unterschied zum behandelten Fall, - ein zweiter Grund also, warum a fortiori die Bestimmung des RBerG für dieses Forum nicht einschlägig ist.

Ein dritter Grund ist das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung. Während das Recht auf Handlungsfreiheit (auf das sich der Beschwerdeführer hauptsächlich berufen hat) hier tatsächlich eine Schranke haben kann (z.B. wenn ein Nichtjurist sich als Anwalt ausgibt und auftritt), liegt das anders bei der Redefreiheit: jedermann darf selbst abstruse Rechtsmeinungen und -vorschläge frei äußern und verbreiten (und das gilt sogar für zugelassene Rechtsanwälte, die meinen, sie könnten mithilfe des RBerG ein erfolgreiches Verbraucherschutzforum in die Kniee zwingen :cool: )!
 
KatzenHai schrieb:
Ohne dass ich diese Meinung unumwunden teile:

Jurtext Online schrieb:
Die sog. altruistische Rechtsberatung fällt damit weitgehend aus dem Anwendungsbereich des RberG, was bei der Reform des RberG entsprechend zu beachten sein wird und insbesondere die Diskussion in Internet-Foren von der latenten Gefahr einer Abmahnung „befreit“.
Ein Problem könnte sein, dass es sich beim Kläger immerhin um einen Juristen handelte. Die Übertragbarkeit auf andere Personengruppen ist damit ggf. nicht gegeben.

M. Boettcher
 
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