Frontal21 am 7. Juni 2005
Viel Geld für unsichere Polizeiwesten
Frontal21: Deutsche Polizisten trotz Warnungen gefährdet
Trotz Warnungen sind in Bayern und Nordrhein-Westfalen Polizisten mit unsicheren Schutzwesten ausgestattet worden. Rund 60 Millionen Euro wurden im Jahr 2003 für die Westen der US-Firma "Second Chance" ausgegeben. Mittlerweile müssen die Westen, die sich bei Tests als nicht kugelsicher erwiesen, wieder ausgetauscht werden.
von Reinhard Laska und Ulrich Stoll, 07.06.2005
- Die Aussichten auf Schadenersatz für die Länder sind nicht gut, der Hersteller hat mittlerweile Zahlungsunfähigkeit angemeldet. Der bayerische Innenminister, Günther Beckstein (CSU), und der Innenminister in NRW, Fritz Behrens (SPD), hatten sich für den Kauf entschieden, obwohl sie nach Informationen des ZDF-Magazins Frontal21 rechtzeitig über die Gefahren informiert worden waren.
Westen versagten in den USA
In den Vereinigten Staaten wurden bereits im Sommer 2003 zwei Polizisten schwer verletzt, weil ihre Schutzwesten der Firma "Second Chance" versagten. In Kalifornien kostete eine Autokontrolle den Polizisten Tony Zeppetella das Leben. Als Zeppetella sich einem Fahrzeug näherte, schoss der Fahrer. Zwei Kugeln durchschlugen die angeblich schusssichere Weste.
In Deutschland erhielten zur selben Zeit zehntausende ahnungsloser Polizisten neue Schutzwesten der gleichen Firma. 38 Millionen Euro investierte allein Nordrhein-Westfalen in die Anschaffung. "Wir haben weltweit gesucht nach dem Besten, was es gibt, und ich bin froh, dass wir das jetzt im Einsatz haben", erklärte NRW-Innenminister Behrens im Juli 2003, knapp fünf Wochen nach Tony Zeppetellas Tod.
Warnungen schon 2001
Warnungen vor der unzuverlässigen Weste gab es sogar schon früher, im Jahr 2001. Der japanische Hersteller des Westenmaterials, Toyobo, wies die Polizei in NRW im Juli 2001 darauf hin, er könne keine Garantie für die verwendete Faser Zylon übernehmen. Für die verhältnismäßig neue Faser liege noch kein langzeitiger Dauerhaftigkeitswert vor, schrieb die Firma.
Auch der deutsche Westen-Hersteller Mehler Vario System, der damals das gleiche Material wie der Konkurrent "Second Chance" verwendete, wurde durch erste Haltbarkeits-Untersuchungen im Sommer 2001 alarmiert. Der Geschäftsführer von Mehler, Siegfried Will, berichtet gegenüber Frontal21: "Die Werte, die dabei zutage gekommen sind, haben angedeutet, dass die Faser in ihrer Festigkeit deutlich schneller altert, als wir das von den traditionellen Materialien gewohnt sind." Per Richtlinie sei eine zehnjährige, bei neuen Materialien auch fünfjährige Gewährleistung auf die Schutzeigenschaften der Westen notwendig. Diese Forderung sei nicht mit den Alterungsergebnissen zu vereinbaren gewesen, sagt Will. Außerdem hätten Einsatzerfahrungen gefehlt.
Anschaffung trotz Warnung
Im Juli 2001, so erklärt die Firma Mehler, habe sie die Polizeibehörden gewarnt. "Die Verantwortlichen haben sich bedankt für die Information, die wir ihnen über die Zylon-Faser gegeben haben, und gleichzeitig angekündigt, dass man den Sachverhalt sehr intensiv prüfen wird", sagt Will. Gleichzeitig habe das Ministerium in Bayern ihn auch informiert, dass der Auftrag an die Firma "Second Chance" vergeben werde. Zuvor hatte das Unternehmen Mehler sein Angebot wegen Sicherheitsbedenken zurückgezogen.
Bayerns Innenminister Beckstein schaffte daraufhin mehr als 27.000 Zylon-Westen von "Second Chance" an - für fast 20 Millionen Euro. Sein Ministerium behauptet heute, erst im Herbst 2003 von Mängeln der Westen erfahren zu haben. Dazu teilte das Ministerium in einem Schreiben an Frontal21 mit: "Wir stellen ein Nachlassen der Schutzwirkung nur bei viel getragenen Westen fest, die ... nicht getragenen Referenzwesten bringen ohne Ausnahme hervorragende Leistungen."
Test zeigt: Weste unsicher
Auch "Second Chance" hat langjährige Garantien für die Sicherheit der Weste abgegeben; sie soll zehn Jahre lang vollen Schutz gewähren. Frontal21 testete die Zuverlässigkeit der Weste auf einem Schießplatz mit Munition, wie sie auch in Dienstwaffen der Polizei verwendet wird. Sechs von zehn Geschossen durchdrangen das Zylon-Material. Im Ernstfall hätte die Test-Weste ihren Träger nicht vor tödlichen Treffern geschützt.
Von den gefährlichen Sicherheitsmängeln wollen auch die Verantwortlichen in Nordrhein-Westfalen erst vor kurzem erfahren haben. Das Innenministerium erklärte gegenüber Frontal21: "Bei Beschussversuchen in Bayern und NRW wurden im Juli/August 2004 erstmals Qualitätsverluste festgestellt."
Schadenersatz fraglich
Erst im August 2004 wurden die Polizisten in Nordrhein-Westfalen gewarnt, dass ihre Westen sie im Ernstfall nicht ausreichend schützen. Doch ihr Dienstherr, Innenminister Behrens, war schon drei Jahre früher informiert, behauptet der ehemalige Landtagsabgeordnete Horst Engel (FDP). "Er persönlich hat im Innenausschuss von uns die gesamten Mängel vor der Vergabe, also vor der entscheidenden Vergabe, genannt bekommen."
Trotz aller Warnungen wurden die unsicheren Westen in insgesamt fünf Bundesländern gekauft. Jetzt muss die Schutzkleidung ausgetauscht werden. Die Bundesländer wollen Schadenersatz von "Second Chance". Doch das amerikanische Unternehmen hat offenbar vorgesorgt. Generalstaatsanwalt Mike Hatch in Minnesota erhebt schwere Vorwürfe gegen die Firma. "Obwohl Second Chance die Probleme mit der Weste kannte, vertrieben sie ihr Produkt auch in Deutschland und den USA weiter", sagt Hatch. "Und als sich die Klagen häuften, ging das Unternehmen einfach in Konkurs."
Rat: Westen weiter tragen
Hatch wirft den Verantwortlichen der Firma ein abgekartetes Spiel vor. In seiner Anklageschrift zitiert er eine Notiz von "Second-Chance"-Chef Davis vom 29. Juli 2002. Darin steht: "Mr. Davis bestätigte, dass Deutschland uns verklagen könnte, vermutete aber, dass das fünf bis zehn Jahre dauern würde und Deutschland keinen Schadenersatz bekäme, wenn Second Chance sich für zahlungsunfähig erklärte."
Rund 60 Millionen Euro haben die Westen den Steuerzahler bereits gekostet. Jetzt müssen neue Westen angeschafft werden - für weitere Millionen. Bis dahin, so empfehlen die Innenminister, sollen die Polizisten die unsicheren Westen einfach weiter tragen.
Webversion des Beitrags von Anke Lang